Botanische Besonderheit Mitteleuropas

Hier könnt Ihr Euch vorstellen oder vom Thema abschweifen.
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Khalni
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Botanische Besonderheit Mitteleuropas

Beitrag von Khalni »

Moin,

Eine Frage, die mich schon seit Längerem beschäftigt, da ich gerade die Systematik der Agaven durchgehe, um die Frostharten rauszupicken und mir dabei auffiel, das es in DE nichts Vergleichbares gibt, obwohl mit Brandenburg und Sachsen-Anhalt zwei recht trockene Regionen vorhanden sind.

Ich sage mal, dass in der vielen Zeit, in der mich oberflächlich mit der Flora anderer Weltgegenden beschäftigte auffiel, dass jede Gegend so ihre Besonderheiten hat in Punkto Artenschwerpunkt, Verbreitungsschwerpunkt, Biodiversitätszentren und dabei Pflanzen hervorgebracht hat, welche in ihrem Erscheinungsbild einmalig sind.

Beispiele:

Australien+ Neukaledonien+ Neuseeland= Baumfarne, Eukalypten, Banksia, Araukaria
Mexiko+ Antillen= Agaven, Dasylirion, Yucca
Borneo+ Indonesien= Kannenpflanzen
Afrika= Aloen, Baobabs, Baumeuphorbien
Asien= Bambus, riesig
Südamerika+ Nordamerika= Kakteen

Es gibt sicherlich noch Hundert weitere Beispiele, war nur zur Veranschaulichung.
Doch drängt sich die Frage auf, was macht Mitteleuropa, respektive DE botanisch besonders, einzigartig? Was gibt es hier ursprünglich, was DE von allen anderen Weltgegenden botanisch abgrenzt, wie bei den Beispielen?

Die Frage kam mir in den Sinn, als ich die unfassbare Agavenvielfalt allein in Mexiko nachlas und es immer noch nicht glauben kann, wie viele das einfach sind.
LG Khalni
Kraichgauer
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Re: Botanische Besonderheit Mitteleuropas

Beitrag von Kraichgauer »

Nichts.
Wie schon öfters gesagt, hängt mit den Eiszeiten zusammen. Deutschland hat gerade einmal 5-6 Endemiten (< 0,1 %, und die sind auch noch schwach abgegrenzt), Mitteleuropa als Ganzes < 1 %. Um zu Hotspots mit Tertiärrelikten zu gelangen, muss man schon nach Zentralspanien (Sa. de Albarracin) und nach Montenegro (Kastanien, Bignoniaceae etc.).

Die Rubus- und Hieracium-Apomikten-Kleinarten in D wollen wir mal besser nicht zählen.

Mexiko ist dagegen einer der weltweiten Hotspots generell, nicht nur für Agaven, hat ungefähr so viele Arten wie die USA.

Sorry. Michael
Khalni
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Re: Botanische Besonderheit Mitteleuropas

Beitrag von Khalni »

Autsch, das tat echt unerwartet weh. Aber trotzdem danke für deine Erleuchtung Michael.

Aber gut zu wissen, dass die Artenhotspots so gar nicht in Mitteleuropa liegen und es hier quasi keine besonderen Arten gibt, die es nicht sonst wo auch gibt.
Schätze, würden die Alpen durch Polen von Nord nach Süd verlaufen, wäre Mitteleuropa einiges an Vielfalt erhalten geblieben, tja, macht man nichts.

Hoffentlich bleibt die Vielfalt in z.B. Mexiko erhalten und wird nicht durch übermäßiges Sammeln, Staudämme, Straßen usw. zerstört, es wäre schade, wenn es überall so beliebig würde, wie in Mitteleuropa, oder es dort in Mexiko statt den 100 Arten nur noch A. americana gäbe.
LG Khalni
Arthur
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Re: Botanische Besonderheit Mitteleuropas

Beitrag von Arthur »

Kraichgauer hat geschrieben: Sa Nov 26, 2022 10:27 am Nichts.
Wie schon öfters gesagt, hängt mit den Eiszeiten zusammen. Deutschland hat gerade einmal 5-6 Endemiten (< 0,1 %, und die sind auch noch schwach abgegrenzt), Mitteleuropa als Ganzes < 1 %. Um zu Hotspots mit Tertiärrelikten zu gelangen, muss man schon nach Zentralspanien (Sa. de Albarracin) und nach Montenegro (Kastanien, Bignoniaceae etc.).

Die Rubus- und Hieracium-Apomikten-Kleinarten in D wollen wir mal besser nicht zählen.

Mexiko ist dagegen einer der weltweiten Hotspots generell, nicht nur für Agaven, hat ungefähr so viele Arten wie die USA.

Sorry. Michael
Hallo Micheal,

mich würden mal die "5-6 Endemiten" interessieren die du Deutschland zuordnest.

Ich habe mich auch mal mit dem Thema beschäftigt und finde es hochinteressant wie hoch die Zahlen teilweise in den Bundesländern sein sollen ( Bayern = 36, Mecklenburg-Vorpommern = 15) Nach wwf sollen es 42 in Deutschland geben und nach dem Bundesamt für Naturschutz 25.

Ich stufe folgende Pflanzen endemisch für Deutschland ein:

1. Calamagrostis rivalis
2. Cochlearia bavarica (neoendemisch)
3. Dactylorhiza ruthei
4. Stipa borysthenica ssp. germanica
5. Tephroseris integrifolia ssp. vindelicorum
6. Myosotis rehsteineri

Alle anderen sind vermutlich eher Ökotypen, Schwermetallsippen, subendemisch, apomiktisch oder Zweifelsfälle.
Natürlich kann man auch die sechs oben genannten anzweifeln.

Mich würde mal deine Meinung dazu interessieren.

Viele Grüße
Arthur
Kraichgauer
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Re: Botanische Besonderheit Mitteleuropas

Beitrag von Kraichgauer »

Na, diese Liste ist auch durchweg problematisch. Steht alles schon in der Flora Germanica:
Calamagrostis rivalis hat man mittlerweile auch in der Tschechei gefunden
Dactylorhiza ruthei ist eine unklare Kleinsippe, von der fraglich ist, ob die neu gefundenen Exemplare überhaupt das Taxon darstellen. Möglicherweise kommt sie auch im Baltikum vor.
Stipa borysthenica ssp. germanica ist eine nicht anerkannte Unterart.
Tephroseris integrifolia ssp. vindelicorum ist eine nicht anerkannte Unterart.
Myosotis rehsteineri gab es zumindest früher am Schweizer Ufer des Bodensees.
Cochlearia bavarica ist ein stabilisierter Hybrid.
Elymus arenosus hat man mittlerweile auch in Holland gefunden.

Die "echte" Liste - ohne Garantie für Vollständigkeit - ohne Apomikten und Festuca-ovina-Kleinarten ist:

1. Arten:
Deschampsia wibeliana [schwach differenziert]
Oenanthe conioides [schwach differenziert]
Sabulina verna (?) [es fehlt noch der genetische Beweis; schwach differenziert]

2. Stabilisierte hybridogene Lokalsippen:
Cochlearia bavarica
Gagea megapolitana
Gagea marchica
Euphorbia (x) megapolitana
Dactylorhiza ruthei (?)

3. Gut differenzierte endemische Infraspezifische:
Viola lutea ssp. westfalica [Schwermetallsippe]
Biscutella laevigata ssp. guestfalica
Biscutella laevigata ssp. tenuifolia
Sempervivum tectorium var. rhenanum (evtl. auch Frankreich)
Pulsavilla vernalis var. bidgostiana
Iberis linifolia ssp. boppardensis
Armeria maritima ssp. halleri (evtl. auch bottendorfensis, hornburgensis) [Schwermetallsippe]
Primula auricula ssp. widmerae
Gentianella germanica ssp. saxonica
Stachys palustris "bestachelte Sippe"
Artemisia campestris ssp. lednicensis (?)

4. Sippen mit Hauptverbreitungsgebiet in D, die gerade noch ins Ausland übergreifen:
Gagea pomeranica
Campanula baumgartenii
Viola schultzii (außerhalb D verschollen)
Dianthus gratianopolitanus
Elymus arenosus
Viola lutea subsp. calaminaria [Schwermetallsippe]
Puccinellia fontana
Armeria purpurea (außerhalb D verschollen)
Calamagrostis rivalis
Saxifraga oppositifolia ssp. amphibia (ausgestorben)
Saxifraga rosacea ssp. sponhemica
Noccaea caerulescens ssp. sylvestris (calaminare) [Schwermetallsippe]
Sabulina caespitosa
Spergularia echinosperma ssp. albensis
Spergularia kurkae
Orobanche mayeri
Pulmonaria collina
Anthriscus sylvestris ssp. stenophyllus (außerhalb D verschollen)
Knautia serpentinicola [Schwermetallsippe]
Valeriana pratensis ssp. franconica

Alles ziemlich dünn, oder? Aber die Botanik hält sich eben nicht an politische Grenzen.

Die zitierten Zahlen in den Bundesländern beinhalten auch Apomikten und/oder Infraspezifische.

Gruß Michael
Arthur
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Re: Botanische Besonderheit Mitteleuropas

Beitrag von Arthur »

Hallo Michael,

vielen Dank für die ausgesprochen interessante Liste. Es ist wohl "noch nicht das letzte Wort gesprochen". Ich finde diese Pflanzenarten sehr interessant. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich noch tiefer in diese Materie eintauchen.
Euphorbia x megapolitana war mir ganz neu. Die Schwermetallsippen sind doch im Prinzip alles Ökotpyen oder?
Ist Spergularia kurkae nicht einfach ein stabiler Hybrid zwischen echinosperma und rubra? Kommt der nicht auch außerhalb Deutschlands vor?
Die Pulsatilla vernalis-Sippe ist mir auch etwas suspekt.

Viele Grüße

Arthur
Kraichgauer
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Re: Botanische Besonderheit Mitteleuropas

Beitrag von Kraichgauer »

Nein, die Schwermetallsippen sind nicht unbedingt alle "nur" Ökotypen, sondern einige sind durchaus ernstzunehmen.
Zum Beispiel sind die Viola lutea-Unterarten genetisch gute Unterarten, bei westfalica sogar mit Tendenz zur Spezies.
Auch Sabulina caespitosa (Minuartia hercynica) ist gut und genetisch überprüft.
Noccaea caerulescens ssp. sylvestris (Thlaspi calaminare) ist sicher auch was Eigenständiges und eine kollin-planare Form einer ansonsten montanen Art.

Dagegen ist Euphorbia x megapolitana wohl nur ein Regionalhybrid, die Sippe ist komplett steril.

Die Pulsatilla vernalis var. bidgostiana ist genetisch klar von den Alpensippen abgegrenzt und ein Präglazial-Relikt. Da gibt es eine weitgehend ignorierte Arbeit darüber. Eigentlich wäre das ein guter Fall, um eine Unterart zu verwenden, die Kombination gibt es aber noch nicht.

Einige sind genetisch m.W. noch nicht untersucht, z. B. Anthriscus sylvestris ssp. stenophyllus, bei dem mich nicht wundern würde, wenn er sogar eine eigene Art wäre.

Ja, Spergularia kurkae kommt in CZ vor, deswegen oben als "ins Ausland übergreifend".

Gruß Michael
Arthur
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Re: Botanische Besonderheit Mitteleuropas

Beitrag von Arthur »

Danke für deine Antwort.
Ich bin bis jetzt davon ausgegangen, dass Viola lutea auf den Schwermetallrasen sehr eng mit Viola lutea in den Pyrenäen verwandt ist. Vielleicht auch einfach ein Ökotyp von Viola lutea sei. Ich muss mich mal mit den Studien zu den Schwermetallsippen mehr beschäftigen.
Gut, Pulsatilla vernalis wächst in Bayern in Kiefernwäldern richtig? In den Alpen sind es dann andere Habitate. Existieren auch morphologische Unterschiede?
Ja, Anthriscus sylvestris ssp. stenophyllus ist schon interessant. Ich meine sie kommt auch nur in einem sehr engbegrenzten Gebiet in der Schwäbischen Alb vor. Hast du dir mal die Populationen angesehen? Gibt es denn vielleicht auch Übergänge oder haben alle Pflanzen diese sehr schmalen Blätter?

"Ins Ausland übergreifend" hatte ich überlesen. Entschuldige.

Ich bedanke mich nochmal herzlich für die Diskussionsgrundlage.
Kraichgauer
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Re: Botanische Besonderheit Mitteleuropas

Beitrag von Kraichgauer »

Arthur hat geschrieben: Mi Nov 30, 2022 12:12 pm Gut, Pulsatilla vernalis wächst in Bayern in Kiefernwäldern richtig? In den Alpen sind es dann andere Habitate. Existieren auch morphologische Unterschiede?
Hauptsächlich genetische, in der Höhenverbreitung und im Biotop. Steht alles in der Flora Germanica und im entsprechenden Artikel von Ronikier et al. 2008.
Arthur hat geschrieben: Mi Nov 30, 2022 12:12 pm Ja, Anthriscus sylvestris ssp. stenophyllus ist schon interessant. Ich meine sie kommt auch nur in einem sehr engbegrenzten Gebiet in der Schwäbischen Alb vor. Hast du dir mal die Populationen angesehen? Gibt es denn vielleicht auch Übergänge oder haben alle Pflanzen diese sehr schmalen Blätter?
Natürlich kennen wir die. Schließlich sind die Photos von mir, oder? Alle Pflanzen haben diese sehr schmalen Blätter. Das Gebiet ist gar nicht so eng begrenzt, aber die vorhandenen Populationen sind mittlerweile stark geschrumpft und reliktär. In der Schweiz ist sie wohl ausgestorben.

Besorg' Dir halt mal die Flora Germanica. Dann muss ich nicht immer hier die Inhalte wiederkäuen.

Gruß Michael
Arthur
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Re: Botanische Besonderheit Mitteleuropas

Beitrag von Arthur »

Danke für deine Antwort. Ich werde mir die Flora Germanica besorgen :)
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