Hallo zusammen,
in der ersten Maiwoche 2024 haben sich die (wenigen) Taraxacum-Spezialisten an der Ostsee nahe Fehmarn zum ersten "Konzil" seit langem getroffen. Ziel war vor allem, die Erythrospermen der Küsten genauer anzuschauen. Denn seit 2003 hat niemand mehr in SH und MV gründlich Erythrospermen kartiert, 2015 war dann die große, genial gute Monographie von Wendt & Øllgaard über die skandinavischen Erythrospermen erschienen, und viele Arten wurden erst im selben Jahr durch Hans Øllgaard beschrieben. Der Verdacht lag daher nahe, dass viele der in der Monographie behandelten Arten auch in Deutschland vorkommen. Vorher konnte man etliche davon, weil unbeschrieben, in Deutschland nicht richtig zuordnen.
Das Ziel haben wir mehr als übertroffen: insgesamt konnten wir an der Ost- und Westküste von SH sowie bis Rügen nicht weniger als zwölf Erythrosperma-Arten neu für Deutschland finden, und zwei vermutlich komplett neue Arten von Rügen, die wir im Herbst neu beschreiben wollen. Dann wollen wir eine große Übersicht der norddeutschen Erythrosperma publizieren (und etwas später auch der süddeutschen).
Auf dem Weg dahin habe ich in Salzhemmendorf im Weserbergland vorbeigeschaut. Dort hatte Peter Kirchmeier Mitte der 1990er Jahre am "Bockshorn", einem Kalksteinbruch mit steinigen Magerrasen, eine rätselhafte, kleine Erythrosperme mit "orangefarbenen" Achänen entdeckt, die damals niemand richtig zuordnen konnte. Seither war dieses Vorkommen in Vergessenheit geraten, bis mir Peter auftrug, doch mal auf dem Weg dort vorbeizuschauen.
Die Suche war mühselig, und eigentlich hatte ich es schon komplett aufgegeben, wenn ich nicht eine genaue telefonische Beschreibung des damaligen Fundorts gehabt hätte (ich wurde von Peter quasi ferngesteuert). Dann habe ich die Art dann doch noch gefunden (vorher war ich zwar drübergelaufen, hatte die winzige Art aber schlicht übersehen) und zum Kultivieren mitgenommen.
Die Überraschung beim späteren Auswerten war riesengroß! Ursprünglich dachten wir, die Art wäre neu, und hatten schon den Arbeitsnamen "capreimontanum" [vom Berg "Bockshorn"] kreiert. Die Art entspricht aber in allen Merkmalen der Beschreibung des rätselhaften Taraxacum parvilobum Dahlstedt, das aus Basel (Güterbahnhof Wolf) in den 1930er Jahren beschrieben worden war. Seit den 1960er Jahren hatte es niemand mehr gesehen, und obwohl wir (Steffen Hammel und ich) vielfach in Südbaden danach gesucht hatten, blieb es verschollen. Trotzdem blieb es in den deutschen Schlüsseln, auch im Rothmaler, enthalten.
Die Abbildung in der Soest-Monographie der Schweizer Löwenzähne von 1969 ist besch...eiden und kaum zur Identifikation geeignet. Peter Kirchmeier hatte aber gute Photographien des Typus im Herb. ZH gemacht (siehe Bild unten). Erst mit diesen Photos war es möglich, die Art richtig zuzuordnen.
Außerdem konnte mit den Exemplaren aus Salzhemmendorf ein weiteres Problem gelöst werden: die Achänenfarbe. Die ist nämlich unausgereift tatsächlich strohfarben mit orangefarbigem Einschlag (siehe Bild unten, so wie für den Typus beschrieben, der hat offensichtlich unausgereifte Achänen). Ausgereift werden die Achänen aber tiefbraun mit schwach orangefarbigem Einschlag (siehe Bild unten), eine bei Erythrospermen seltene Farbe. Sie bleiben aber extrem klein (< 2 mm). Deswegen ist die Zuordnung zu Dissimilia, wie im Rothmaler-Schlüssel, falsch. Eher gehört die Art zur Series Brunnea.
Das winzige, pollentragende T. parvilobum ist von der Blattform her mit keiner anderen Erythrosperme Deutschlands zu verwechseln: kleine (an der Spitze auffällig gehäufte), deltoide, waagerecht abstehende Seitenlappen (nicht zurückgebogen wie beim oberflächlich ähnlichen T. plumbeum) mit wenigen kleinen Zähnen an der Basis, außerdem mit langen unteren Interlobien. Die nächste Verwandte ist möglicherweise das braunfrüchtige T. plumbeum (franconicum), auch T. brachyglossum kann ähnlich werden, ist aber viel größer und rotbraunfrüchtig.
Bleibt die Frage: wie kommt die Art so disjunkt nach Salzhemmendorf? Eher ist die Frage umgekehrt zu stellen: wurde sie nach Basel verschleppt? Solch reliktäre, disjunkte Verbreitungen sind von etlichen Erythrospermen bekannt - genauso sind die Verhältnisse bei vielen Pilosella, die in den gleichen steinig-xerothermen Pionierbiotopen vorkommen und vielerorts durch Eutrophierung und Zuwachsen erloschen sind.
Jedenfalls ist damit eines der ältesten Erythrosperma-Rätsel gelöst. Zusammen mit den anderen Wieder- und Neufunden sieht es in dieser Gruppe jetzt sehr viel klarer aus als früher. Die Artenzahl in Deutschland dürfte von 30 (im Rothmaler) auf 60 - 70 steigen.
Gruß Michael
Taraxacum parvilobum Dahlst. - wiederentdeckt
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Taraxacum parvilobum Dahlst. - wiederentdeckt
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Re: Taraxacum parvilobum Dahlst. - wiederentdeckt
Vielen Dank für den sehr interessanten Beitrag und Glückwunsch zu dem Fund. Ich plane dieses Jahr auch einen kleinen Beitrag über die hessischen Erythrospermen in Hessen in der BNH zu veröffentlichen. Ein paar Unbestimmte aus Südhessen habe ich auch noch.
Re: Taraxacum parvilobum Dahlst. - wiederentdeckt
Hallo Michael,
feiner Fund und Lohn der Bemühungen!!
Gruß
Peter
feiner Fund und Lohn der Bemühungen!!
Gruß
Peter
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Re: Taraxacum parvilobum Dahlst. - wiederentdeckt
In Südhessen ist gut möglich, dass einige unserer nordbadischen Arten "übergreifen". Sehr wahrscheinlich bis fast sicher z. B. die "Weinbergsippe", clemens oder proximum. Proximum dürften Steffen und Markus dieses Jahr bereits auf hessischem Territorium gefunden haben.
Gruß Michael
Gruß Michael